Für Feliciana und Rosaura ist heute ein großer Tag: ein Ärzteteam im Dorf - da gibt es für die fünfjährigen Mädchen viel anzuschauen und zu erkunden. Sie freuen sich, wenn wir mit ihnen spielen, und wenn wir ihnen etwas zeigen oder erklären, hängen sie uns interessiert an den Lippen. Sie sind aufgeweckt, fröhlich und wißbegierig und haben wache Augen.
Feliciana und Rosaura leben in Sacalaca, einem Maya-Dorf im Dschungel, abgelegen von den größeren Städten, etwa eine Fahrtstunde von Felipe Carrillo Puerto entfernt. Die Straßen sind teilweise unbefestigt, in der Dorfmitte ist eine alte Kirche. Hühner, Truthähne, Schweine und Hunde laufen frei herum. In dem Dorf gibt es eine Grundschule, bald werden Feliciana und Rosaura eingeschult. Weiterführende Schulen befinden sich in großer Entfernung. Für die Kinder und Jugendlichen, die diese besuchen könnten, fehlen Transportmöglichkeiten. Ihr Wissensdurst bleibt ungestillt. Das Bildungsniveau in diesem Dorf ist niedrig, viele können weder lesen noch schreiben. Die Menschen hier gehören zu der ärmsten Bevölkerungsgruppe Mexikos. Sie haben, was sie zum Leben brauchen, mehr nicht.
Sacalaca hat etwa 1000 Einwohner. Viele von ihnen leben in traditionellen Maya-Hütten, deren Wände aus senkrecht stehenden Hölzern verfertigt sind, manche Hütten sind von Steinmauern umgeben. Der Fußboden besteht oft nur aus Erdboden, das Mobiliar aus Hängematten, Plastikstühlen und eventuell ein paar Ablageflächen wie Tischen und Regalen. Wohn- und Schlafraum sind nicht getrennt. Gekocht wird meist über einer Feuerstelle. Stromanschluß und fließendes Wasser sind vorhanden, wenn auch nicht überall. Einen merkwürdigen Kontrast bilden die Fernseher, die zur Ausstattung einiger Hütten gehören: Der technische Fortschritt hat auch hier Einzug gehalten, Bilder aus fremden Welten flimmern in die Maya-Hütten. Amerikanische Soaps, Bilder von Menschen, die ein besseres Leben führen als die Einwohner hier. Neben den Maya-Hütten sieht man einige neuere Flachdachhäuser, in denen sich im Sommer die Hitze staut. In den Gärten stehen Orangenbäume, die Früchte werden nicht abgeerntet, sie fallen auf den Boden und verfaulen. Hauptnahrungsmittel sind Mais und Bohnen. Cola-Flaschen und Soft-Drinks kennt man auch hier, in diesem abgelegenen Dorf im Dschungel. Viele Frauen und Kinder sind übergewichtig.
Im Dorf sieht man vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen. Die Frauen tragen ihre traditionellen bestickten weißen Gewänder. Womöglich haben viele Männer das Dorf verlassen, um zu versuchen, eine Arbeit in einem Hotel oder Restaurant in den Urlaubshochburgen Playa del Carmen oder Cancún zu finden. Die Menschen hier sind sehr freundlich. Die Kinder halten sich draußen auf, vom Spielen im Freien sind sie schmutzig. Immer wieder fällt auf, wie verspielt, lebhaft und interessiert sie sind.
Die Menschen verständigen sich in ihrer indigenen Sprache, viele unserer Patienten haben keine Spanisch-Kenntnisse. Die Kinder sprechen Spanisch. In der Grundschule bekommen sie Unterricht, auch durch das Fernsehen lernen sie viel. Mit den Erwachsenen, vor allem den Älteren, ist Verständigung dagegen schwieriger: Wir brauchen oft Dolmetscher, die ihre Sprache beherrschen, und bemühen uns um einfache Formulierungen. Wichtiges muß mehrfach wiederholt werden: Komplizierte Zusammenhänge lassen sich nicht vermitteln, die Ursachen von Krankheiten oft nur mit großer Mühe erklären. Der Mangel an Bildung läßt sich hier auch am schlechten Zustand der Zähne ablesen: Zuckerhaltige Getränke und fehlendes Wissen über Zahnpflege haben bei vielen starke Spuren hinterlassen. Unter den Patienten sind auch viele Frauen, die an der Last familiärer Probleme schwer zu tragen haben.
Die Lebensbedingungen der Menschen hier wirken auf einen außenstehenden Beobachter beengend. Ich kann mir keine Aussagen darüber erlauben, wie sie selbst ihre Situation empfinden und bewältigen. Doch daß Mangel herrscht, ist offensichtlich: ein Mangel, der zugleich eine große Ungerechtigkeit ist. Wenn sich nichts ändert, werden die aufgeweckten Kinder von Sacalaca, Kinder wie Feliciana und Rosaura, nicht die Möglichkeit haben, ein besseres Leben zu führen als ihre Eltern.